I. DAS ERGEBNIS DER VOLKSABSTIMMUNG VOM 29. NOVEMBER

Mit der Volksabstimmung vom 29. November über die "Konzernverantwortungsinitiative" ist einer der längsten, umstrittensten und teuersten Abstimmungskämpfe in der Schweizer Geschichte zu Ende gegangen.

Mit der Ablehnung der Konzernverantwortungsinitiative wurde der indirekte Gegenvorschlag, den Bundesrätin Karin Keller-Sutter im August 2019 lanciert hatte, automatisch angenommen. Dieser wird demnächst im Bundesblatt publiziert.

Der Bundesrat wird den Gegenvorschlag jedoch erst nach (1) Ablauf einer 100- tägigen Frist, sofern kein Referendum ergriffen wird, oder (2) nach Ablehnung eines allfälligen Referendums in Kraft setzen.

Da ein Referendum gegen den Gegenvorschlag unwahrscheinlich ist, kann mit einem Inkrafttreten des Gegenvorschlags vor Mitte 2021 gerechnet werden. Die entsprechenden gesetzlichen Pflichten werden nach Ablauf einer einjährigen Übergangsfrist umzusetzen sein, d.h. für die meisten Schweizer Unternehmen im Jahr 2023.

II. DER GEGENVORSCHLAG: DIE NEUE REALITÄT

Der Gegenvorschlag stellt kein eigenständiges Gesetz dar, sondern besteht in Änderungen des Schweizerischen Obligationenrechts und des Schweizerischen Strafgesetzbuches.

Inhaltlich wird der Gegenvorschlag das schweizerische Recht an das EU-Recht angleichen, indem er wesentliche Elemente der EU-Richtlinie über die nichtfinanzielle Berichterstattung (EU 2014/95) und der EU-Verordnung über Konfliktminerale (EU 2017/821) übernimmt und diese durch die Einführung einer Sorgfaltspflicht in Bezug auf Kinderarbeit ergänzt, letzteres in Anlehnung an ein kürzlich erlassenes niederländischen Gesetz zur Sorgfaltspflicht zwecks Vermeidung von Kinderarbeit ("Wet Zorgplicht Kinderarbeid"), das voraussichtlich 2022 in Kraft treten wird.

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs differenziert der Gegenvorschlag: Während die nicht-finanziellen (sprich ESG-) Transparenzvorschriften nur für Grossunternehmen gelten (Unternehmen von "öffentlichem Interesse"1, welche (1) mehr als 500 Vollzeitstellen sowie (2) eine Bilanzsumme von mehr als 20 Mio. CHF bzw. einen Umsatz von mehr als 40 Mio. CHF) aufweisen, gelten die weitergehenden Sorgfaltsprüfungs- und Berichterstattungspflichten für alle Unternehmen, die Waren und Dienstleistungen importieren, verarbeiten oder anbieten, bei denen ein erhöhtes Risiko von Menschenrechtsverletzungen besteht. Letzteres gilt für (1) den Import oder die Verarbeitung bestimmter Mineralien und Metalle aus Konfliktgebieten (z.B. Zinn, Tantal, Wolfram, Gold) ab einer bestimmten Importmenge, sowie (2) das Anbieten von Waren oder Dienstleistungen, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie unter Einsatz von Kinderarbeit hergestellt oder erbracht wurden.

Unternehmen, die den oben genannten Sorgfaltsprüfungs- und Berichterstattungspflichten unterliegen, müssen ein Lieferketten-Managementsystem entwickeln und implementieren, das mindestens aus (1) einer Lieferkettenpolitik besteht, die sich mit den für das Unternehmen relevanten Risiken (sog. 'salient issues') bezüglich Mineralien und Metallen auf Konfliktgebieten bzw. Kinderarbeit befasst, sowie (2) einem System, das die Rückverfolgung von Produkten entlang der gesamten Lieferkette ermöglicht.

Ähnlich wie im französischen Gesetz Loi de Vigilance von 2017 müssen die betroffenen Unternehmen einen Risikomanagementplan erstellen, in dem die für das Unternehmen relevanten Risiken ('salient issues') in der Lieferkette identifiziert und geeignete Massnahmen zur Risikominderung festgelegt werden.

Um Transparenz zu gewährleisten, muss das oberste Exekutivorgan (bei Aktiengesellschaften: der Verwaltungsrat) der betroffenen Unternehmen alljährlich einen Bericht über die Einhaltung dieser Sorgfaltspflichten veröffentlichen und diesen während 10 Jahren zugänglich halten.

Einer der Hauptunterschiede des Gegenvorschlags zur Konzernverantwortungsinitiative besteht im Fehlen einer zivilrechtlichen Haftung der schweizerischen Muttergesellschaften für ihre Tochtergesellschaften und für wirtschaftlich kontrollierte Drittunternehmen. Trotzdem darf der Gegenvorschlag nicht als reiner "Papiertiger" missverstanden werden, da ein Verstoss gegen die Meldepflicht mit einer Busse bis zu CHF 100'000 strafrechtlich geahndet werden kann.

III. NÄCHSTE SCHRITTE FÜR SCHWEIZER UNTERNEHMEN

Mit der Einführung einer umfassenden nicht-finanziellen Berichterstattungspflicht und einer risikobasierten Sorgfaltsprüfungspflicht betreffend Konfliktmineralien und Kinderarbeit im Gegenvorschlag wird die Schweiz ein "level playing field" mit allen EU-Mitgliedsstaaten geschaffen.

Während viele Schweizer Grossunternehmen bereits heute regelmässig Nachhaltigkeitsberichte veröffentlichen, wird das neue Gesetz nicht nur eine sorgfältige Analyse hinsichtlich der Vollständigkeit bzw. Ergänzungsbedürftigkeit dieser Berichte erforderlich machen, sondern auch eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der Governance und Abläufe dieser Unternehmen nahelegen, da die neuen Berichte über nicht-finanzielle Angelegenheiten nicht nur durch den Verwaltungsrat, sondern auch durch die Generalversammlung genehmigt werden müssen. Für solche Unternehmen dürfte es ratsam sein, die Zusammensetzung ihres Verwaltungsrates zu überprüfen, um eine angemessene Vertrautheit mit Fragen der Nachhaltigkeit bzw. der Unternehmensverantwortung zu gewährleisten. Eine solide Unternehmensstruktur und -prozesse in Nachhaltigkeitsaspekten werden der Schlüssel zur Vermeidung strafrechtlicher Sanktionen wegen fehlender oder falscher Berichterstattung sein.

Vorbehaltlich gewisser Ausnahmen zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU), die vom Schweizer Bundesrat in einer neuen Verordnung noch zu definieren sein werden, müssen alle in der Schweiz ansässigen Unternehmen, die entweder bestimmte Mineralien und Metalle aus Konfliktgebieten in die Schweiz importieren oder verarbeiten, oder die Produkte oder Dienstleistungen anbieten, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie unter Einsatz von Kinderarbeit hergestellt oder erbracht wurden, ein Sorgfaltsprüfungs- und Risikomanagement-Konzept wie oben beschrieben erstellen.

Ausgangspunkt für ein solches Konzept wird eine Beurteilung der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf die Menschenrechte (sog. «Human Rights Impact Assessment», HRIA) sein, welche die gesamte Wertschöpfungskette des Unternehmens hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die Menschenrechte umspannt. Für ein Unternehmen z.B. in der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie bildet eine solche Bewertung seine gesamte Wertschöpfungskette ab, d.h. (1) von der Produktion bzw. Beschaffung der Rohstoffe zu (2) Produktion, (3) Vertrieb und (4) Marketing von Produkten, bis zu deren (5) Recycling, und erfasst alle potentiell betroffenen Interessengruppen entlang dieser Kette, d.h. eigene Angestellte, Vertragsarbeiter, Arbeitskräfte in der Lieferkette, lokale Gemeinschaften und gefährdete Gruppen. Das Ergebnis dieser Beurteilung definiert nicht nur die für ein Unternehmen relevanten Risiken ('salient issues'), sondern bildet die Grundlage für dessen Unternehmensverantwortungskonzept.

Internationale Rahmenwerke wie das "Child Labour Guidance Tool for Business" der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und des Internationalen Arbeitgeberverbandes (IOE) aus dem Jahr 2015 oder die "OECD Due Diligence Guidance for Responsible Business Conduct" aus dem Jahr 2018 stellen Referenzrahmen dar, welche dabei ergänzend berücksichtigt werden sollten.

Auch der Bundesrat dürfte sich bei der Ausarbeitung der neuen Verordnung zur Unternehmensverantwortung2 an diesen internationalen Rahmenwerken, aber auch nationalen Instrumenten (wie der demnächst erwarteten Ausführungsverordnung zum neuen niederländischen Gesetz zur Sorgfaltspflicht zwecks Vermeidung von Kinderarbeit) orientieren.

Gerne unterstützen wir Sie in allen Belangen der Unternehmensverantwortung.

Footnotes

1 Gemäss Art. 2 lit. c des Revisionsaufsichtsgesetztes (RAG) sind dies (1) börsenkotierte Gesellschaften und (2) Finanzinstitute unter Aufsicht der FINMA

2 Die offizielle Bezeichnung dieser Verordnung ist noch nicht bekannt.

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