Nicht erst seit der COVID-19-Krise und den damit einhergehenden Schutzmassnahmen fragt sich manch ein VR-Mitglied, ob es sich nicht einfach an einer VR-Sitzung vertreten lassen könne. Die Antwort ist «Jein».

Keine gesetzliche Regelung

«Ein VR-Mitglied kann sich unter keinen Umständen im Verwaltungsrat vertreten lassen.» Diese lange durch die Koryphäen der Schweizer Jurisprudenz mit guten Argumenten untermauerte Auffassung bekam in den letzten zehn Jahren mehr und mehr Risse. Ausdrücklich geregelt oder gar verboten ist die Stellvertretung im Gesetz nicht. Das Bundesgericht hat 1945 ein einziges Mal der Delegation der VR-Tätigkeit eine Abfuhr erteilt. Seither liessen die höchsten Schweizer Richter die Frage offen. Einige kantonale Handelsregisterämter tolerieren Vertretungsklauseln in den Statuten, andere nicht. Inzwischen gibt es, je nach Kanton, etliche – auch börsenkotierte – Aktiengesellschaften, welche über eine Vertretungsklausel in den Statuten verfügen. Wir bewegen uns also rechtlich auf einem eidgenössischen Flickenteppich.

Persönliche Haftung auch bei Abwesenheit

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Aktionär als passiver Investor die Unternehmensführung einer Person übergibt, der er aufgrund ihrer persönlichen Kompetenz vertraut. Gerade bei kotierten Gesellschaften ist man unter den Argusaugen der Aktionäre bemüht, ein diversifiziertes Gremium zu schaffen, in dem jedes einzelne VR-Mitglied als essenzieller Bestandteil eines Räderwerks gilt, dessen Zusammenspiel erst die kompetente Oberleitung der Gesellschaft gewährleistet. Fehlt der Input eines dieser Gremiumsmitglieder, ist gerade bei komplexen und weitreichenden Sachgeschäften der korrekte Führungsentscheid infrage gestellt. Deshalb knüpft die Organhaftung auch am individuellen Mitwirken des VR-Mitglieds an und lässt die Lehre und Rechtsprechung die Ausrede der «Stimmenthaltung» oder der «Abwesenheit» als Entschuldigung nicht gelten.

Stellvertretungsregelung als Ausnahmelösung

Die COVID-19-Krise hat uns innert Wochen in ein neues digitales Kommunikationszeitalter katapultiert. Aus jedem noch so entfernten Winkel der Erde ist der rege Austausch in Wort und Bild auch für technisch weniger Begabte sichergestellt. Die Fälle, in denen ein VR-Mitglied wirklich zwingend einer Sitzung fernbleiben muss, sind heute an einer Hand abzuzählen. Für die Einführung einer Stellvertretungsregelung für diese äusserst seltenen Notfälle spricht, dass es besser ist, dem abwesenden VR-Mitglied über einen bevollmächtigten VR-Kollegen eine Stimme zu geben, als diese gänzlich ungehört zu lassen.

Fazit

Jedes VR-Mitglied trifft eine Mitwirkungspflicht, die es mit allen zumutbaren Mitteln zu erfüllen gilt. Ein solches Mittel in offensichtlichen Ausnahmesituationen ist die je nach Kanton zugelassene Bevollmächtigung eines Stellvertreters basierend auf einer statutarischen Grundlage und einer fallspezifischen ausdrücklichen Vollmacht mit begründeten Stimminstruktionen.

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